Die Grenze war für sie überschritten. Das konnte sie nicht mehr hinnehmen.
Die Starterinnen des 800m-Laufs machten sich an der Linie bereit, der Schuss fiel, das Feld setzte sich in Bewegung. Merle blieb zunächst in „Beobachterposition“ im Mittelfeld, bei 250m setzte sie sich an die Spitze, kontrollierte das nun leicht angezogene Tempo. Während sich das Feld zur Mitte der Strecke hin immer mehr auseinander zog, spürte sie Jays Atem in ihrem Nacken. Abschütteln, wie eine lästige Fliege! Merle beschleunigte erneut, setzte zu einem langgezogenen Spurt an, früher als gewöhnlich, die Verfolgerin blieb dran. Bei 650m lief sie wie ein Schatten neben ihr, unaufhaltsam zog es sie nach vorne, Merle hielt dagegen, verkrampfte, konnte nicht folgen, fiel zurück. Der Abstand vergrößerte sich und zerstörte endgültig ihre Kraft und Moral. Nach überlegenem Lauf riss Jay jubelnd die Arme hoch, Merle, die Beine immer schwerer, kam als Fünfte ins Ziel. Müde sah sie, wie die Journalisten die Siegerin umlagerten, wie sie vor begeistertem Publikum ihre Ehrenrunde lief, während sie allein, ausgepumpt und enttäuscht in einer Ecke hockte. Doch auch hier klickte eine Kamera. Sie sah den Artikel vor sich: Sensationeller Triumph einer Schönheit, die große Favoritin enttäuschte auf der ganzen Linie! Natürlich, sie hatte sich den Lauf falsch eingeteilt, aber auch bei ihrer normalen Taktik wäre sie nur Zweite geworden.
Sie waren einmal Freundinnen gewesen. Dann waren Jays Eltern mit der Tochter weggezogen. Ihr Vater hatte von seiner Firma her alle paar Jahre einen anderen Betätigungsort und nahm die Familie mit. Merle war nun ohne beste Freundin, aber auch ohne Konkurrenz. Als sie älter wurde, hatte sie einen Haufen Bewunderer. Mit ihrem fein gezeichneten Gesicht und dem blonden Wuschelhaar, das sich lebendig im Wind bewegte, war sie nicht das schönste Mädchen der Schule, erschien aber allen Jungen attraktiv, die den sportlichen Typ favorisierten und ihre Erfolge bewunderten. Die Weggezogene vermisste sie nicht.
Als wäre nichts gewesen, kam Jay acht Jahre später wieder, zu einer Schönheit gereift, die ihre Mitmenschen fesselte. Zu einem Viertel war sie brasilianischer Herkunft, und diese Gene hatten sich durchgesetzt: ein kaffeebrauner, harmonisch gebildeter Körper, ein ebensolches Gesicht, lange, schwarze Haare. Mit ihrer Intelligenz wurde sie Klassenprima, und sportlich war sie auch noch. Nicht in jeder, doch in vielen Disziplinen setzte sie sich durch, ließ Merle alt aussehen. Und nun nahm sie ihr den sicher geglaubten Sieg in ihrer Paradedisziplin.
Die Grenze war überschritten. Sie nahm es persönlich und musste etwas dagegen tun!
Max und seine Clique, eine Klasse über ihnen, waren in der Schule berüchtigt. Alles, was ungewöhnlich war, peinlich, gemein, wurde von ihnen in Gang gesetzt, konnte auch gegen einen bestimmten Geldbetrag bestellt werden. Mit Max wollte man nichts zu tun haben, es sei denn„geschäftlich“. Seine Hilfe brauchte sie nun. Sie wolle Jay zu einem „Duell“ fordern, wolle sie in einem Kampf besiegen, wolle sie öffentlich so demütigen, dass sie nie wieder in dieser Schule einen Fuß auf die Erde bekomme, nie wieder mit ihr konkurrieren könne.
Er könne, bestätigte Max, das Duell im Rahmen einer Fete organisieren, könne Jay einladen und alles tun, um sie zum Kampf zu bewegen, er könne die Verliererin so bloßstellen, dass niemand dies jemals vergessen werde, doch gewinnen müsse Merle selbstverständlich selber. Werde sie besiegt, würde sie die Gedemütigte werden. Um ehrlich zu sein, er finde Jay gut und fände es super, wenn Merle von ihr besiegt würde. Aber keine Sorge, er werde völlig leidenschaftslos die Verliererin bestrafen, wer es auch sei.
Merle verzog ihr Gesicht. Als Kinder hatten beide häufig miteinander gekämpft, und am Ende saß sie immer auf der besiegten Freundin und massierte mit ihren Knien Jays Bizeps so gemein, dass diese vor Schmerz aufschrie. Das war für sie der Höhepunkt des Spiels, die Geschlagene ließ es mit sich geschehen. Doch einmal hatten sie sich in der Schule gestritten, und als sie sie spüren lassen wollte, wer das Sagen hat, drehte Jay ihr den Arm um und zwang sie auf die Knie. Vor den Augen der Mitschüler musste sie hilflos um Gnade betteln. Das hatte sie ihr bis heute nicht verziehen, und dass sie sich damals nicht rächen konnte, lag nur daran, dass Jay am nächsten Tag weggezogen war. Ja, dachte Merle und biss sich auf die Lippen, ich oder sie – das musste ein für alle Mal geklärt werden.Und die Antwort musste lauten: Ich!
Ich oder sie – es war alles vorbereitet, Jay hatte für die Fete zugesagt. Merles Eltern waren auf Geschäftsreise, sodass die Tochter unkontrolliert ihre Zeit einteilen und ihre Rache ausführen konnte. Sie konnte auch ohne Ermahnung ihr Konto plündern und Max bezahlen.
Jay war sichtlich überrascht, ja überfordert, als sie zum Duell herausgefordert wurde. Sie sei jederzeit bereit, über ihren Konflikt zu reden und sich friedlich zu einigen. Sie habe nie etwas gegen Merle gehabt und kein Motiv, gegen sie zu kämpfen. Merle schallerte ihr eine und spuckte sie anschließend an, sodass die Rotze über ihr Gesicht floss. Max und seine Leute riefen: „Feigling – Feigling – Feigling…!“ und „Wir woll’n Blut sehn, wir woll’n Blut sehn…!“ Und nun standen sich zwei zornerregte Mädchen gegenüber. Ihre Hände verkrallten sich ineinander, die Körper bäumten sich gegeneinander auf, darum bemüht, die eigene Stärke zu zeigen, die Gegnerin aber gleichzeitig nicht zum Zuge kommen zu lassen. So „schoben“ sich beide unter den Rufen der Zuschauer, ohne dass dabei Raum gewonnen werden konnte. Wer war in der Lage, den Griff zu lösen und sich selber einen Vorteil zu verschaffen?
Es war Jay, die plötzlich losließ und Merle in den Schwitzkasten nahm, bevor diese reagieren konnte. „Quetsch das Blondchen!, schrie Max, und „Quetschen, quetschen…!“ rief es ringsum. Merles Gesicht wurde von dem festen Griff zusammengedrückt. Jay hatte nicht ganz den Hals getroffen, holte das Versäumte aber nach, sodass aus dem Quetschen nun ein Würgen wurde. Merles Keuchen zeigte, dass der Griff nicht ohne Wirkung blieb. In eine gebeugte Haltung gedrückt, konnte sie den Boden sehen, die Feindin aber weitgehend nur fühlen. Mit allen Kräften versuchte sie, sich zu sträuben, den Griff zu lockern, die Gegnerin aus dem Gleichgewicht zu bringen, sich von dem Druck, den ihr Hals spürte, zu befreien. Sie kämpfte auch gegen die Wand anfeuernder Rufe, die Jay ermutigten.
Schließlich verloren die Kämpfenden doch ihr Gleichgewicht, und Merle konnte ihre Beine so gegen Jays Körper pressen, dass diese den Griff öffnen musste. Nun wälzten sich beide am Boden, versuchten die andere zu dominieren, ihren widerstrebenden Körper in den Griff zu bekommen. Merle fand einen leichten Vorteil, suchte sich zu etablieren, wurde aber vom sich windenden Körper der Feindin abgeworfen. Nun fühlte sie sich selber in den harten Boden gedrückt, versuchte, mit jedem freien Körperteil dem Druck zu widerstehen, die „Reiterin“ abzuwerfen, die jetzt ihre Arme ganz in ihrer Gewalt hatte und die Beine nicht mehr an sich heranließ. Jays Knie hatten sich in Merles Bizeps gegraben, und jetzt rutschten sie auf ihm herum, wie Jay es einst als Kind erdulden musste. Merle schrie vor Schmerzen, wimmerte dann nur noch, denn Jay setzte die „Massage“ unter den jubelnden Zurufen der Zuschauer unbeirrt fort. Hatte Merle noch Kraft in ihren Armen, wurde sie nun aus ihnen herausgestanzt. Sie lag unten, die Stärkere über sich, und war nun das Opfer. Schließlich hörte Jay auf, hatte die Arme der Gegnerin eingeklemmt und zeigte der unter ihr Liegenden ihre Muskeln in Siegespose. Schau her, ich habe dich besiegt!
Vielleicht hätte sie von ihr abgelassen, aber Max rief: „Schlag sie! Das hätte sie auch mit dir gemacht, wenn sie gewonnen hätte.“, und im Chor erschallte: „Schlag sie! Schlag sie!…“ und wieder „Wir woll’n Blut sehn!…“ Als wenn sich bei Jay jetzt erst die Kontrolle gelöst hätte, brach die Wut ungehemmt aus. Ohne weitere Überlegung, ohne zu zielen schlug sie zu, mit der Faust, mit der flachen Hand, rechts und links, wie es gerade kam. Merle konnte zwar den Kopf noch etwas drehen, doch so verteilten sich die Schläge nur über ihr ganzes Gesicht. Erst als das Blut schon aus mehreren Wunden floss, ließ die Wütende von ihr ab.
Hände griffen nach der Verliererin, sie musste auf die Knie, ihre Hände wurden auf den Rücken gefesselt, der Kopf nach hinten gebogen. Jeder der Anwesenden kam und rotzte ihr ins Gesicht, wie sie es mit Jay gemacht hatte. Rotze, Blut, Schweiß und Tränen vermischten sich und rannen als feuchte Masse ihr Gesicht herunter. Schließlich wurde sie wie ein Hund an einen Heizkörper angeleint.
Man trug jetzt die pompöse Nachtmahlzeit auf, aß, trank und feierte in bester Stimmung, lästerte und lachte über die elende Verliererin dieses „Duells“, die alles bezahlt hatte und jetzt miterleben musste, wie andere es genießen. Wie hingeworfen hockte Merle in der Ecke und versuchte, sich das Gesicht an ihrer Kleidung abzuwischen. Von der Geselligkeit war sie ausgestoßen und der lachenden Masse ganz ausgeliefert. Für jedes Bedauern war es zu spät.
Nach dem fröhlichen Mahl wurde die Verliererin ausgezogen, wo nötig, ihre Kleidungsstücke aufgeschnitten, um sie zu entfernen. Von der johlenden Gruppe wurde sie nackt an der Hundeleine durch die Stadt geführt in die Richtung ihrer Schule. Jay hatte war längst gegangen, sie verabscheute, was geschah. Doch Merle hatte schließlich dafür bezahlt, dachte sich Max. Und sie hatte es verdient…
Vor dem Schulgelände wurde sie an eine Straßenlaterne gebunden, die Hände mit Handschellen, den Hals mit einem Fahrradschloss, die Füße mit Stricken. Max schrieb mit dicker roter Farbe auf ihren nackten Körper. Zufrieden mit dem Ergebnis, las er: „Bitch“ und „Loser“. „Strafe muss sein, Blondchen“, kommentierte er. Mit schadenfrohem Lachen ließ die Clique sie allein.
Die Schule lag abseits der Durchgangsstraßen, sodass in den nächsten Stunden niemand an der Gefesselten vorbeikam. Es war eine warme Nacht, aber Merle fröstelte, nicht nur wegen des leichten Windzugs. Sie wusste, was ihr bevorstand: eine tiefe Demütigung vor allen Schülern ihrer Schule. Alle Versuche, an ihren Fesseln zu rütteln, blieben ohne Ergebnis. Sie konnte sich nicht befreien.
Als die ersten Schüler eintrafen, wirkte der improvisierte „Pranger“ wie ein Magnet. Stück für Stück versammelte sich die Schulgemeinde vor dem Laternenpfahl. Manche lachten sich „zu Tode“ oder machten sich über die Ausgestellte lustig, andere entrüsteten sich über die Aktion oder bemitleideten ihre Mitschülerin. Einige zückten ihr Smartphone, um die Szene festzuhalten, andere um Hilfe zu rufen. Die Lehrer übten sich in Alibiaktionen, wussten aber nicht recht, was sie tun konnten. Alle aber blieben stehen und glotzten. Merle, bereits nackt, fühlte sich von den Blicken vollends ausgezogen. Je länger es dauerte, umso „nackter“ war sie, wollte „im Boden zu versinken“, was die Fesseln aber nicht zuließen. Als endlich Hilfe kam, dauerte es noch endlos, bis vor allem das Fahrradschloss geknackt war. Sensationslüstern drängten sich die Mitschüler immer enger um den Pfahl. Schließlich wurde Merle ins Krankenhaus gebracht, endlich befreit von deren Blicken. Wie könnte sie es ertragen, sich in ihrer Schule noch einmal blicken zu lassen.